Grenzerfahrungen gehören zur Fülle des Lebens
Die Liturgie des Gottesdienstes steht seit Jahr und Tag. Die Abläufe sind der Gemeinde vertraut. Wie programmiert läuft der Wechsel von Zuhören und aktiver Beteiligung Sündenbekenntnis, Gnadenverkündigung und Gebet, dann singt die Gemeinde gemeinsam ein langgezogenes Aaaaamen. Alles wie immer. Doch manchmal kommt Bewegung in den Ablauf eines Gottesdienstes. Wenn Kinder getauft werden, kann Unvorhersehbares geschehen. Dann weiß keine Pfarrerin, kein Pfarrer, was genau passiert.
Sonntagmorgen Triangelis-Gemeinde Rheingau. Vier kleine Kinder sollen in der Johanneskirche in Erbach getauft werden. Pfarrerin Clarissa Graz bittet Paten und Eltern mit ihrem Nachwuchs, der heute in die christliche Gemeinschaft aufgenommen wird, nach vorn zum Taufbecken. Die beiden kleineren Schützlinge, die noch nicht laufen können, verhalten sich unauffällig und lassen die Prozedur über sich ergehen. Doch die Älteste aus dem Trio ruft immer wieder „nein, nein, nein“ und wendet sich auf dem Arm der Mutter ab, als Wasser über ihr Haupt fließen soll. Die Pfarrerin beruhigt das Kind. Sie meistert die Situation mit Gelassenheit und Souveränität. Selbst Mutter einer Tochter und eines Sohnes findet Clarissa Graz die richtigen Worte für das aufgeregte Mädchen und sagt zur Gemeinde mit einem Augenzwinkern, dass die Taufe ja schließlich eine große Sache sei und es dabei um Alles gehe, vielleicht spüre das auch das Kind? Der Gottesdienst in der vollbesetzten Kirche geht mit dem „Vater Unser“ zu Ende und die Gemeinde hat drei neue Mitglieder – rund 3600 gehören dazu.
Die Kirchengemeinde Triangelis zeigt in ihrem Logo deutlich, mit was sich die Menschen am Rhein westlich von Wiesbaden beschäftigen. Die zu einem Dreieck angeordneten sechs Punkte symbolisieren Weintrauben, in die das Kreuz eingebettet ist. Der Name Triangelis kommt flüssig über die Lippen, erinnert phonetisch ganz bewusst an evangelisch und gibt in der Vorsilbe einen deutlichen Hinweis, dass die Gemeinde aus drei Teilen ein Ganzes machen möchte. Die Orte Eltville, Erbach und Kiedrich sind einzigartig und sie bilden eine Einheit.
Triangelis geht mit der Zeit. Die Kirchengemeinde präsentiert sich gastfreundlich, offen und modern. Sie ist in ihrer Außendarstellung up to date, damit die Themen und Botschaften auch junge Menschen erreichen. Da passt es, dass Triangelis über Veranstaltungen wie etwa die Nacht der Kirchen mit „Licht, Klang und Wein“ auch via App auf dem Handy informiert und nach dem abendlichen Event ganz oben unterm Kirchendach sofort im Internet darüber berichtet. Eine benutzerfreundliche, frisch aufgemachte und aktuelle Homepage gehört dazu. Triangelis ist keine Insel, auf der fromme Menschen den Blick nach innen richten und sich allein mit Glaubensfragen und Theologie beschäftigen. Die Kirche in Erbach steht nicht nur an zentraler Stelle im Ort, sondern sie befindet sich auch mittendrin in der Stadtgesellschaft. Pfarrerin Clarissa Graz ist auf vielen Plattformen und Foren unterwegs und hat ihre Gemeinde im lokalen Netzwerk fest verankert. „Das ist eine große öffentliche Bühne und als Pfarrerin musst du Lust haben, diese zu betreten“, sagt Clarissa Graz. Das versucht sie auch den Vikarinnen und Vikaren, die bei ihr in der Ausbildung sind, zu vermitteln.
Man merkt es der Pfarrerin an, dass sie das breite Spektrum ihres beruflichen Engagements genießt. Sie sieht neue Herausforderungen als Chance, denn als schwere Aufgabe. Das kann beflügeln, Kreativität wecken, aber manchmal auch Grenzerfahrungen mit sich bringen. Die gehören zu diesem Beruf wie das Amen in der Kirche. „Ich habe jeden Tag das ganze Leben“, sagt die 42-Jährige Theologin, die auch mehrere Semester Psychologie studiert hat. „In meinem Beruf steckt alles drin.“ Sie spricht von einer großen Themen-Vielfalt, die im Alltag der Kirchengemeinde liegt und vom enormen Pensum, das eine Pfarrerin, ein Pfarrer zu bewältigen habe. Clarissa Graz arbeitet mitunter zwölf Stunden am Tag und schätzt dabei die Freiheit, mittags mit den Kindern essen zu können.
Der Beruf präsentiert sich für sie als die „Fülle des Lebens. Es kann nie langweilig werden.“ Die Gemeinde ist lebendig. Auf dem Hof und im Garten zwischen Kirche und Pfarrhaus in Erbach ist oft was los, vor allem an Wochenenden. Der Beruf ist immer präsent und für die meisten Eltviller ist die Pfarrerin eigentlich auch permanent im Dienst selbst im Supermarkt. „Da muss man auch mal raus“, sagt Clarissa Graz. Weil man im Beruf auch in Hektik und Stress verfallen kann, gelte es, auf den gesunden Ausgleich zu achten, was neudeutsch als Work-Life-Balance bezeichnet wird. Ruhe finden in der Stille, ein paar Stunden mit einem guten Buch verbringen das sind Momente, die die Pfarrerin genießt, gern realisieren will und nicht lange nur als Wunsch vor sich herschieben möchte. Clarissa Graz legt Wert auf Achtsamkeit. Sie spricht davon, dass sie da sein möchte, wo sie ist. Sie meint damit, aktives Zuhören, den Moment erleben und ein offenes Ohr für die Menschen haben, insbesondere wenn sie Hilfe brauchen.
Krisensituationen gehören dazu. Augenblicke, in denen Gott den Menschen auf einmal fremd wird, weil sie nicht verstehen können, warum eine schreckliche Nachricht wie eine Bombe in ihr Leben eingeschlagen ist. Wenn etwa ein Kind stirbt, tauchen viele Fragen auf, suchen Eltern und Angehörige nach Antworten, die sie in einer christlichen Sicht auf das Leben und im Vertrauen auf Gott vielleicht sehen sollten, aber doch nicht finden können. „Wieso hat Gott das zugelassen?“ Es gibt Momente wie diesen, da schauen spätestens bei der Beerdigung alle Menschen auf die Pfarrerin und warten auf eine Antwort. Diese Situation hat Clarissa Graz schon erlebt. „Ich spürte das Bedürfnis der Familie nach einer Erklärung und hörte die Frage, wie kann ich weiterleben?“ Rezepte gibt es da nicht. „Aber ich kann zuhören, Geschichten erzählen und für die Menschen da sein, in der Hoffnung, dass sie sagen können, ich bin mit Gott aus der Krise gekommen.“ Und manchmal tauchen plötzlich Zeichen auf. Bei der Beerdigung eines 18 Monate alten Kindes gab es über dem Dorf einen Regenbogen.
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